Soziale Selbstverwaltung als Markenzeichen der Sozialversicherungen stärken

von Peter Weiß, Bundeswahlbeauftragter der Bundesregierung für die Sozialversicherungswahlen

„Die Sozialwahlen bilden das Kernstück der Demokratie in der Sozialversicherung. Und die Soziale Selbstverwaltung ist ihr Markenzeichen.“ Diese beiden Sätze leiten mein Handeln und das meiner Stellvertreterin Doris Barnett als Bundeswahlbeauftragte. Ende September haben wir den Schlussbericht über die letzten Sozialwahlen im Jahr 2023 an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) übergeben. Er enthält unter anderem alle wesentlichen Kennzahlen dieser nach der Bundestags- und der Europawahl drittgrößten Wahl in Deutschland. Insgesamt haben 11,5 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben. Bei den Sozialwahlen 2023 gab es zwei Neuerungen, die auch die künftigen Sozialwahlen prägen werden,

  • das Modellprojekt Online-Wahlen und
  • die Einführung einer Geschlechterquote.

Am Modellversuch „Online-Wahl“ haben sich 15 gesetzliche Krankenkassen beteiligt. Fünf von ihnen führten tatsächlich eine Online-Wahl durch. Erstmals war es in Deutschland damit möglich, bei einer vom Gesetzgeber veranlassten Wahl die Stimme über das Internet abzugeben. Die erfolgreiche Durchführung des Modellprojektes wird die Diskussion darüber beflügeln, ob und bei welchen anderen Wahlen künftig die Möglichkeit der digitalen Stimmabgabe eröffnet werden soll. Mit diesem ersten Modellversuch gebührt den Sozialwahlen der Verdienst, Schrittmacher bei der Digitalisierung von Wahlen zu sein.

Eine weitere Innovation war die Festlegung einer Geschlechterquote. Auch dies ist im deutschen Wahlrecht bislang einmalig. Mindestens 40 Prozent der Kandidierenden auf einer Vorschlagsliste mussten weiblich sein. Bei den gesetzlichen Krankenkassen war diese Quote verpflichtend. In der Renten- und der Unfallversicherung galt eine „Soll“-Vorschrift. Über alle Sozialversicherungszweige hat die Neuregelung zu einer signifikanten Steigerung des Frauenanteils in den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung geführt. Dieser liegt nun bei über 43 Prozent.

Insgesamt 3.860 Vertreterinnen und Vertreter der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben bei den letzten Sozialwahlen Mandate in den Vertreterversammlungen, Verwaltungsräten oder Vorständen bei 144 Sozialversicherungsträgern im Bereich der Gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung neu oder wiederholt übernommen. Sie engagieren sich ehrenamtlich in der Sozialen Selbstverwaltung und sind damit Teil unseres demokratischen Gemeinwesens und Garanten des Sozialstaates. Bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung finden so ganz konkret statt, Tag für Tag, und dies für ganze sechs Jahre. Denn so lange dauert eine Wahlperiode in der Sozialen Selbstverwaltung. 

Zusammenfassend festzuhalten ist, dass die Sozialwahlen 2023 trotz eines Rückgangs bei der Wahlbeteiligung insgesamt ein Erfolg waren. Immerhin fand die Wahl Mitte letzten Jahres in einem sehr schwierigen Umfeld statt: die Sicherheitslage in Europa nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, steigende Preise, Inflation und Lebenshaltungskosten sowie Fragen der Energieversorgung waren die weithin bestimmenden Themen in der Bevölkerung. Unabhängig von der Wahlbeteiligung haben eine Nachwahlbefragung und weitere Studien gezeigt, dass die Bedeutung der Sozialen Selbstverwaltung und der Sozialwahlen im Bewusstsein der Wahlberechtigten noch nicht ausreichend verankert ist. Oftmals wird der Nutzen der Sozialen Selbstverwaltung angezweifelt, weil diese augenscheinlich nur über geringe Kompetenzen verfüge. Eine ehrliche und gründliche Analyse dieser Befunde führt daher zu der Erkenntnis, dass ein schlichtes „Weiter so“ keine Perspektive ist. Daher enthält unser Schlussbericht eine Reihe von Vorschlägen, um die Thematik der Zukunft der Sozialen Selbstverwaltung und damit auch der Grundarchitektur der Sozialversicherungen in Deutschland anzugehen. Ziel ist es, in der Gesellschaft, bei den Sozialpartnern und in der Politik einen Diskussionsprozess anzustoßen, der zu einer neuen Verständigung über die Grundlagen der Sozialen Sicherung und über Auftrag und Sinn einer Sozialen Selbstverwaltung führen soll. Unsere wichtigsten Empfehlungen sind:

  • Die Soziale Selbstverwaltung braucht Verfassungsrang. Sie sollte im Grundgesetz verankert werden.
  • In der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit sollte Basiswissen des deutschen Sozialversicherungssystems vermittelt werden.
  • Die Öffentlichkeitsarbeit zur Selbstverwaltung und zur Sozialwahl muss noch weiter verbessert werden.
  • Und nicht zuletzt braucht es mehr Kompetenzen der Selbstverwaltung.

 

Meine Stellvertreterin Doris Barnett und ich würden uns sehr freuen, wenn unsere Vorschläge nicht nur diskutiert, sondern auch konkret aufgegriffen würden. Spätestens in der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages müssten dann auch entsprechende Entscheidungen getroffen werden. 

Die nächsten Sozialwahlen finden 2029 statt.

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